Wenn das Immunsystem zu stark reagiert: Wie Immun-Hyperaktivität deine Energie raubt

Wenn das Immunsystem zu stark reagiert: Wie Immun-Hyperaktivität deine Energie raubt

Lesezeit: 10–12 Minuten

Zusammenfassung

  • Das Immunsystem ist einer der größten Energieverbraucher des Körpers – jede Aktivierung kostet enorme Mengen ATP.

  • Bleibt das Immunsystem dauerhaft überaktiv, entsteht chronische Entzündung: Energieproduktion bricht ein, Müdigkeit und Erschöpfung nehmen zu.

  • Die Studie von Che et al. (2025) zeigt, wie Immun-Hyperaktivität bei ME/CFS Energie raubt – mit wichtigen Hinweisen auch für gesunde Menschen.

Übersicht

  1. Warum Immunaktivität so viel Energie kostet
  2. Die neue Studie von Che et al. (2025)
  3. Ergebnisse: Wenn das Immunsystem übersteuert
  4. Übertragbarkeit auf gesunde Menschen
  5. Alltagstipps für ein balanciertes Immunsystem
  6. Fazit – was wir aus der Forschung lernen können
  7. Originalpublikation

Warum Immunaktivität so viel Energie kostet

Das Immunsystem gehört zu den energieintensivsten Systemen unseres Körpers. Jede Immunreaktion bedeutet Schwerstarbeit auf molekularer Ebene: Immunzellen müssen sich in kürzester Zeit vervielfältigen, Signalstoffe (Zytokine) werden in großen Mengen ausgeschüttet, und spezialisierte Zellen wie Makrophagen oder Killerzellen gehen aktiv gegen Eindringlinge vor. Diese Prozesse erfordern nicht nur Proteine, Enzyme und Botenstoffe, sondern vor allem enorme Mengen an ATP, der universellen Energiewährung der Zellen.

Unter normalen Umständen ist eine Immunreaktion zeitlich begrenzt. Nach einer Infektion oder Verletzung werden die Abwehrprozesse wieder heruntergefahren, die Entzündungsbotenstoffe sinken ab, und der Körper findet zurück in ein energetisches Gleichgewicht. Genau dieses Gleichgewicht ist entscheidend: Es stellt sicher, dass das Immunsystem seine Aufgabe erfüllt, ohne unnötig Energie zu verbrauchen oder gesunde Strukturen anzugreifen.

Doch die Realität sieht manchmal anders aus. Wenn das Immunsystem nicht abschaltet, sondern in einer Art Dauer-Alarmbereitschaft verharrt, entsteht ein Zustand, den Forschende als niedriggradige chronische Entzündung bezeichnen (low-grade inflammation). Die Immunbotenstoffe bleiben dauerhaft erhöht, Stoffwechselwege geraten aus dem Takt, und die Mitochondrien – unsere zellulären Kraftwerke – schalten in einen ineffizienten Notmodus. Das Ergebnis: höhere Anfälligkeit für Erschöpfung, eingeschränkte Energieproduktion und im Extremfall chronische Fatigue.

Dauer-Alarmbereitschaft Immunsystem

Eine aktuelle, aufsehenerregende Studie von Che et al. (2025) hat genau diesen Mechanismus untersucht. Die Forschenden konnten zeigen, dass bei Menschen mit ME/CFS (Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) das Immunsystem eine übersteigerte Aktivität zeigt – selbst auf kleine Reize. Dabei werden Zytokine in ungewöhnlich hohen Mengen produziert, Stoffwechselwege wie der Citratzyklus oder die Fettverbrennung geraten aus dem Gleichgewicht, und es entstehen Stoffwechselprodukte, die Müdigkeit, kognitive Probleme und anhaltende Erschöpfung erklären können.

Die neue Studie von Che et al. (2025)

Um diese Mechanismen im Detail zu beleuchten, führte das Forschungsteam eine umfassende Untersuchung mit 56 Patient:innen mit ME/CFS sowie 52 gesunden Kontrollpersonen durch. Entscheidend war, dass beide Gruppen sorgfältig auf Alter, Geschlecht und weitere Gesundheitsparameter abgeglichen wurden – so konnten Unterschiede im Ergebnis tatsächlich der Erkrankung zugeschrieben werden und nicht zufälligen Störfaktoren.

Alle Teilnehmenden absolvierten anschließend eine standardisierte Fahrradergometrie. Diese Art Belastungstest wird in der Medizin häufig eingesetzt, um den Einfluss von körperlicher Aktivität auf Herz-Kreislauf- und Stoffwechselfunktionen zu messen. Im Fall von ME/CFS dient er als gezielter Auslöser für eine bekannte Symptomatik: die sogenannte post-exertional malaise (PEM) – eine drastische Verschlechterung des Befindens nach selbst leichter körperlicher oder geistiger Anstrengung.

Fahrradergometrie

Besonders aufschlussreich war das Studiendesign, das nicht nur Momentaufnahmen erfasste, sondern zeitliche Dynamik abbildete: Blutproben wurden sowohl vor der Belastung als auch 24 Stunden danach entnommen. Auf diese Weise konnten die Forschenden genau nachzeichnen, wie das Immunsystem und der Energiestoffwechsel auf Stress reagieren – und ob die Reaktionen bei ME/CFS-Betroffenen anders verlaufen als bei gesunden Menschen.

Für die Analyse nutzte das Team einen modernen Multi-Omics-Ansatz. Dabei werden verschiedene biologische Ebenen gleichzeitig untersucht (mehr dazu weiter unten im Exkurs).

Man kann sich dieses Vorgehen wie ein großes Puzzle vorstellen: Jedes „-Omics“-Teil liefert Informationen für sich allein, aber erst im Zusammenspiel ergibt sich ein ganzheitliches Bild davon, wie Immun- und Energiestoffwechsel ineinandergreifen – und warum es bei ME/CFS zu massiven Störungen kommt.

Exkurs: Multi-Omics erklärt

Der Begriff „Multi-Omics“ beschreibt die gleichzeitige Analyse verschiedener biologischer Ebenen, die sonst oft getrennt untersucht werden. Dabei werden etwa das Genom (Erbinformation), das Proteom (aktuell gebildete Eiweiße, darunter Immun-Botenstoffe) und das Metabolom (kleine Stoffwechselprodukte wie Zucker, Fette oder Aminosäuren) gemeinsam betrachtet.

Der Vorteil: So entsteht ein umfassendes Bild, das zeigt, welche Prozesse gerade aktiv sind – nicht nur, was theoretisch möglich wäre. Gerade bei Erkrankungen wie ME/CFS wird dadurch deutlich, wie Immunreaktionen den Energiestoffwechsel stören und warum Mitochondrien unter Belastung weniger effizient arbeiten. Man kann sich diesen Ansatz wie den Unterschied zwischen einem einzelnen Instrument und dem Klang des ganzen Orchesters vorstellen.

Ergebnisse: Wenn das Immunsystem übersteuert

Die Analyse lieferte eindeutige Befunde:

  • Zytokin-Überproduktion: Schon im Ruhezustand schütteten die Immunzellen von ME/CFS-Betroffenen ungewöhnlich viele Entzündungsbotenstoffe aus (z. B. IL-6, TNF-α). Nach Belastung nahm diese Ausschüttung sogar noch zu – anstatt sich wie bei Gesunden wieder zu beruhigen.
  • Gestörter Energiestoffwechsel: Wichtige Wege der Energiegewinnung liefen nicht rund. Zucker, Fette und Eiweiße konnten nicht effizient verwertet werden. Statt Energie (ATP) zu produzieren, stauten sich Zwischenprodukte wie Citrate oder Blutfette an – ein Zeichen für Blockaden im „Energiefluss“.
  • Mitochondrienstress: Die Mitochondrien – die Kraftwerke der Zellen – arbeiteten nicht mehr effizient. Sie produzierten weniger Energie und gleichzeitig mehr „Abfallprodukte“ in Form von oxidativem Stress, die den Körper zusätzlich belasten.
  • Tryptophan-Stoffwechsel: Anstelle des wichtigen Botenstoffs Serotonin entstanden vermehrt Abbauprodukte, die das Nervensystem reizen können. Das könnte typische Beschwerden wie Stimmungstiefs, Schlafprobleme oder „Brain Fog“ erklären.
  • Darmbarriere: Es fanden sich Anzeichen für eine durchlässigere Darmschleimhaut („Leaky Gut“) und ein verändertes Mikrobiom. Dadurch können kleinste Bestandteile von Bakterien ins Blut gelangen und das Immunsystem weiter anheizen.

Exkurs: Zytokine – kleine Moleküle, große Wirkung

Zytokine sind winzige Botenstoffe, die Immunzellen nutzen, um miteinander zu kommunizieren. Sie sorgen dafür, dass die richtige Abwehrzelle zur richtigen Zeit am richtigen Ort aktiv wird. Ohne Zytokine wäre eine koordinierte Immunantwort unmöglich. Doch wenn sie dauerhaft erhöht sind, entsteht chronische Entzündung. Das kostet enorme Energie – und führt dazu, dass Mitochondrien in einen Notmodus schalten.

Problematisch wird es, wenn diese Signale dauerhaft „auf laut“ gestellt sind. Dann entsteht eine chronische Entzündung, die nicht mehr gezielt Eindringlinge bekämpft, sondern den gesamten Organismus belastet. Das kostet enorme Energie und zwingt die Mitochondrien in einen Notmodus: Sie produzieren weniger ATP, dafür aber mehr oxidativen Stress. Auf Dauer kann so selbst ein eigentlich nützliches Signal zum Energieräuber werden.

Übertragbarkeit auf gesunde Menschen

Die beschriebenen Mechanismen lassen sich nicht nur bei ME/CFS beobachten. Auch gesunde Menschen können in ähnliche Muster rutschen, wenn das Immunsystem dauerhaft in Alarmbereitschaft bleibt:

  • Chronischer Stress: Hormonelle Schwankungen, vor allem bei Cortisol, bringen die Immunbalance durcheinander.
  • Schlafmangel: Schon wenige Nächte mit schlechtem Schlaf erhöhen messbar die Entzündungswerte im Blut.
  • Ungesunde Ernährung: Viel Zucker, Transfette oder Alkohol fördern „stille“ Entzündungen, die unbemerkt Energie rauben.
  • Infekte & Long-COVID: Nach Infektionen bleibt das Immunsystem oft wochenlang aktiv – selbst wenn die akute Krankheit längst vorbei ist.

Exkurs: Mitochondrien als Schaltstelle

Mitochondrien sind weit mehr als nur die „Kraftwerke“ unserer Zellen. Sie reagieren sehr sensibel auf Signale aus dem Immunsystem und wirken wie kleine Schaltstellen: Gerät der Körper in einen Entzündungszustand, verändern die Mitochondrien ihre Arbeitsweise.

Mitochondrien

Statt effizient Energie in Form von ATP zu produzieren, sinkt ihre Leistung – gleichzeitig entstehen mehr freie Radikale (reaktive Sauerstoffspezies). Diese wiederum verstärken Entzündungen und belasten die Zellen zusätzlich. So entsteht ein Teufelskreis: Weniger Energie steht zur Verfügung, während die Immunaktivität weiter befeuert wird.

Alltagstipps für ein balanciertes Immunsystem

Auch wenn wir das Immunsystem nicht direkt „an- oder ausschalten“ können, gibt es viele Stellschrauben im Alltag, die helfen, es in Balance zu halten – und so Energieverluste durch stille Entzündungen zu vermeiden:

  • Schlaf: Regelmäßige 7–8 Stunden pro Nacht senken nachweislich die Entzündungswerte und geben dem Immunsystem Zeit zur Regeneration.
  • Ernährung: Viel Gemüse, Omega-3-Fettsäuren aus Fisch oder Leinsamen sowie Polyphenole aus Beeren und grünem Tee wirken wie natürliche Entzündungshemmer.
  • Bewegung: Moderate Aktivität – etwa Spaziergänge, Radfahren oder leichtes Krafttraining – stärkt die Abwehrkräfte, ohne sie zu überlasten.
  • Stressmanagement: Atemübungen, Meditation oder bewusste Pausen stabilisieren den Cortisolspiegel und schützen so vor chronischer Überlastung des Immunsystems.
  • Mikronährstoffe: Vitamine, Zink, Magnesium und ausgewählte sekundäre Pflanzenstoffe tragen dazu bei, die Immunbalance zu fördern und oxidative Prozesse einzudämmen.

Fazit – was wir aus der Forschung lernen können

Die Studie von Che et al. (2025) macht sehr deutlich: Ein Immunsystem, das dauerhaft in Alarmbereitschaft bleibt, ist ein echter Energieräuber. Bei Patient:innen mit ME/CFS führt das zu massiver Erschöpfung, Konzentrationsproblemen und körperlicher Schwäche. Doch die Mechanismen, die dahinterstecken – übermäßige Zytokinproduktion, gestörter Energiestoffwechsel und überlastete Mitochondrien – können auch bei gesunden Menschen auftreten. Auslöser sind oft ganz alltägliche Faktoren wie chronischer Stress, zu wenig Schlaf oder wiederkehrende Infekte.

Die gute Nachricht: Unser Körper hat starke Selbstregulationsmechanismen. Ein balanciertes Immunsystem entsteht, wenn wir ihm die richtigen Rahmenbedingungen geben. Dazu gehören ausreichend Schlaf, eine abwechslungsreiche Ernährung mit entzündungshemmenden Lebensmitteln, regelmäßige Bewegung in moderater Intensität sowie bewusste Pausen zum Stressabbau. Auch bestimmte Mikronährstoffe und sekundäre Pflanzenstoffe können dazu beitragen, dass die Immunantwort nicht „überdreht“.

So schützen wir nicht nur unsere Abwehrkräfte, sondern auch unsere Mitochondrien – und damit die Basis unserer Energieproduktion. Wer sein Immunsystem in Balance hält, bewahrt mehr Vitalität, Konzentration und Lebensqualität im Alltag.

Originalpublikation
Che X, Ranjan A, Guo C, Zhang K, Goldsmith R, Levine S, Moneghetti KJ, Zhai Y, Ge L, Mishra N, Hornig M, Bateman L, Klimas NG, Montoya JG, Peterson DL, Klein SL, Fiehn O, Komaroff AL, Lipkin WI. Heightened innate immunity may trigger chronic inflammation, fatigue and post-exertional malaise in ME/CFS. medRxiv [Preprint]. 2025 Jul 24:2025.07.23.25332049. doi: 10.1101/2025.07.23.25332049. Update in: NPJ Metab Health Dis. 2025 Sep 3;3(1):34. doi: 10.1038/s44324-025-00079-w. PMID: 40778181; PMCID: PMC12330418.

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